Westernhagen reloaded: Weitersagen

Freiheit. Das ist der wohl bekannteste Song von Marius Müller-Westernhagen. Und er darf zum Auftakt der Mixtour von Andreas Weitersagen nicht fehlen – dem bekanntesten Double des Deutsch-Rockers. Aber Double ist nicht das richtige Wort.

Ja. Er sieht aus wie Westerhagen. Und ja. Er singt auch so. Aber ihn als Double zu bezeichnen, greift zu kurz. Alte Lieder – im neuen Gewand und mit einer ausgezeichneten Band. Das ist einzigartig. Das ist eben kein Plagiat.

 

Der Auftakt der Mixtour von Andreas Weitersagen im Berliner Wintergarten ist gelungen. Nur fragt man sich, warum der Name Weitersagen genommen wurde und wofür er steht. Ja, weitersagen ist richtig. Weil sich der Sound und die Show sich lohnt.

Zur Höchstform läuft Weitersagen auf, wenn er nicht nur die alten Lieder von Westernhagen spielt. Ohne Zweifel brillant. Aber wenn er den Blues oder Country anstimmt, dann rockt der Saal. Weitermachen.

 

In den kommenden Monaten tourt Andreas Weitersagen durch Deutschland. Über 300.000 Menschen haben ihn in den vergangenen Jahren schon gesehen. Nicht zu unrecht: Eine perfekte Bühnenshow plus einer einmaligen Stimme – und eine Band, die ihresgleichen sucht.

Sehr persönlich wird Weitersagen beim Song „Du kannst das“, wo er die Geschichte eines Freundes erzählt, der ein Bein verloren hat. „Du kannst das, du wirst das schaffen“ klingt im Wintergarten fast wie eine Hymne. Unterlegt mit einem Video, das zu Herzen geht.

 

Eine Tour, die man hören kann, die man hören sollte. Virtuos, originell und ein kleines Kunstwerk. Prädikat: Enpfehlenswert.

Übrigen: Marius Müller- Westernhagen gilt mit mehr als 11 Millionen verkauften Tonträgern als einer der erfolgreichsten deutschen Musiker. Und so manchen Song kann man gerade im 30. Jahr des Mauerfalls wiederentdecken.

Märchen im Mombi

Gleich zwei mal steht Grimm im Mombijou-Park: und noch dazu in Holz. Einmal als Wilhelm-Hütte und zum anderen gleich daneben als Jakob-Hütte. In diesen alten polnischen Holzhütten werden in der Winterzeit Märchen der Gebrüder Grimm gezeigt – im Original für die Kinder ab vier Jahren oder auch als Gruselversion für Erwachsene.

Heute stehen die beiden Holzhütten aus dem 19. Jahrhundert auf einem ehemaligen Bunker am Rande des Parks. Im Sommer sind sie vom Mombijou-Theater verdeckt, das im Stile das alten Shakespeare-Teater jedes Jahr im Frühling aufs Neue aufgebaut und im Herbst wieder abgebaut wird.

 

Gespielt werden in der Regel zwei Märchen mit eine Pause zwischendrin. Natürlich muss auch das Publikum mitmachen. Das lässt sich an diesem nass-kalten Winterabend in der alten, nur durch einen Ofen geheizten Hütte aber gern dazu animieren. Das wärmt. Doppelt.

Der gestiefelte Kater ist ein Klassiker. Mit Freude verfolgen die rund 100 Besucher die List des alten Katers, seinen Herrn zu einem Grafen Barnabas zu machen – und spielen in dem Heldenstück auch lautstark mit.

 

Übrigens: Das Fundament der Hütten stammt aus den 1940er Jahren aus dem Führersofortprogramm Bunkerbau. Hier war zu Kriegsende der Kreisssaal der Charité untergebracht.

Zahl der Woche: 94

Was für eine -positive- Überraschung: Seit Jahresbeginn läuft die Schuldenuhr des Bundes der Steuerzahler noch schneller rückwärts. Mittlerweile sind es pro Sekunde 94 Euro weniger, die die öffentliche Hand an Schulden aufnimmt.

 

Erstmals konnte die Schuldenuhr im vergangenen Jahr mit einem Minus vor der sekündlichen Schuldenzahl programmiert werden. Ein schönes Ergenis der schwarzen Null im Bundeshaushalt.

The World on Paper

Am Anfang stand das Wort? Nein! Am Anfang war ein Blatt Papier – ein leeres. Damit die Gedanken freien Lauf nehmen konnten. Das zeigt in beeindruckender Weise die erste Ausstellung im neuen Berliner PalaisPopulaire, dem einstigen Opern-Café gleich neben der Staatsoper Unter den Linden.

Es ist die bisher umfangreichste Ausstellung aus der Sammlung Deutsche Bank, die ihren Weg ins einstige Opernpalais gefunden hat. Rund 300 Arbeiten von 134 Künstlern zeigen die sogenannte Nachkriegsmoderne. So wie auf diesem Bild, wo zarte Bleistift-Striche an ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht erinnern.

 

Überhaupt bietet die Eröffnungsausstellung immer wieder hoch spannende Einblicke in die künstlerische Gedankenwelt – von einem zerrissenen Malblock über eine festgetackerte Büroklammer auf weißem Kopierpapier bis hin zu überdimensionieren Stadtplänen, auf denen all die zum Teil sinnlosen Verkehrsschilder festgehalten sind.

Eine der schönsten Ideen ist die, alte Buchseiten zu neuem Leben zu erwecken. Einfach weiß übermalen und dann Alltagsszenen darauf festhalten. 

 

Kunst kommt eben von Können. Manchmal ist es nur eine kleine Idee, die den Besucher staunen lässt. Diese Sammlung von gut zwei Dutzend skurriler Buchseiten hat es jedenfalls geschafft, manch einem Betrachter ein breites Schmunzeln zu entlocken.

Gleich in der Rotunde besticht die Installation „Moondiver II“ von Zilla Leutenegger aus der Schweiz. Ein an die Wand gemalter Kran hält einen grünen oder lila Mond, der sich als Videoinstallation bewegt und dem Besucher fast auf den Kopf zu fallen scheint.

 

Übrigens: Das Prinzessinen-Palais wurde für die Töchter von Friedrich Wilhelm III erbaut, die nie darin gelebt haben. Zu DDR-Zeiten beherbergte es das Opern-Café – auch Haus der 500 Torten genannt. Plüschig süß. Seit 2014 stand das Gebäude dann schließlich leer.

Gundermann rockt Festsaal

Hätte er sich DAS gewünscht? Mal in einem Festsaal aufzutreten?? Möglicherweise – wenn es der Festsaal Kreuzberg gewesen wäre. Hier fand das traditionelle Jahresende-Konzert der Randgruppencombo aus Tübingen statt. Bereits zum 19. Mal brachten sie die Songs des Liedermachers Gerhard „Gundi“ Gundermann wieder auf die Bühne.

„mittendrin und doch ein wenig fremd“ – das stammt aus einem Gundermann-Lied und trifft auch auf die Event-Location zu. An der Grenze der Bezirke Treptow (Ost) und Kreuzberg (West) gelegen, hat der Festsaal hier seit 2017 seinen neuen Platz gefunden.

 

Die Kombination der Auftritte ist doch perfekt. Gleich nach Gundermann, der auch als Idealist galt, kommt die „Rebellion der Träumer“. Besser hätte man es nicht planen können.

Drei Stunden live auf der Bühne – Hut ab. Denn die Rangruppencombo sind keine Profis, sondern waren zur Gründungszeit alles Mitarbeiter des Landestheaters Tübingen. Regisseur Heiner Kondschak hörte durch Zufall Gundermann-Lieder und konnte rasch im Hause eine ganze Laien-Band begeistern.

 

Dank an Busch-Funk, die die Tübinger entdeckt haben und jedes Jahr wieder nach Berlin holen. Nachdem 2016 der traditionelle Auftrittsort Postbahnhof am Ostbahnhof der Gentrifizierung zum Opfer gefallen ist, wurde über den Umweg Columbia-Halle nun dieser passende Auftrittsort zwischen Ost und West gefunden. Einfach genial.

Weihnachten mit Troyke

Ein Weihnachtskonzert der besonderen Art: Karsten Troyke präsentiert einen Abend vor Weihnachten seine ganz persönliche Sicht auf jenen besonderen Abend, der seit über 2.000 Jahren an die Geburt des Heiland erinnert.

Ausgerechnet das Berliner Ballhaus hat sich Troyke für diesen Auftritt ausgesucht. Eines der bekanntesten Ballhäuser Berlins, wo es heute noch Tischtelefone gibt, mit denen Mann seine Partnerin zum Tanz auffordern kann. Aber zumindest die rote Farbe passt.

 

Das Ballhaus Berlin, so der offizielle Name, hat eine lange Geschichte. 1905 erbaut war es zunächst ein Bürgerlokal „Zum Alten Baden“ mit Kaffegarten, später wurden daraus „Schwantkes Festsäle“, um sich dann zum „Chausseestraße-Palast“ zu mausern. An diesem Abend machte sich diese lange Geschichte mit einem Wasserrohrbruch bemerkbar.

Im Inneren versöhnte jedoch ein wunderbar nostalgisch geschmückter Weihnachtsbaum, der über zwei Etagen reichte. Er darf getrost als einer der schönsten Bäume zum Fest in der Hauptstadt gelten.

 

Nicht nur auf der Bühne wusste Troyke mit seinem etwas anderen Programm inklusive jiddischer Lieder und Gedichten zu überzeugen. Vor der Tür stand er bei einer Raucherpause auch noch gern bei knapp über null Grad Rede und Antwort. Und griff beherzt selbst zu einer Zigarette – umsonst ist die markante Stimme nicht zu haben.

Einer der Fans wollte unbedingt ein Gedicht mitnehmen, das Troyke kurz zuvor vorgetragen hatte. Und dabei verriet der Künstler, dass er mittlerweile die größten Buchstaben nutzen muss, sonst könne er die Texte nicht mehr lesen. Aber das soll ein kleines Geheimnis bleiben, oder?

 

Jedenfalls ist ein Abend mit Karsten Troyke immer ein Erlebnis. Musikgenuss zum Fest mit rauher Stimme – vom Feinsten.

Fake des Jahres: Relotius

Dreistigkeit siegt. Der Deutsche Reporterpreis 2018 ging an Claas Relotius (33) vom „Spiegel“. Die Begründung: Sein so geehrter Text sei „von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz“, der „nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert“. Wirklich??

Erst der Co-Autor eines anderen Artikels wurde misstrauisch und recherchierte auf eigene Faust hinterher. Mit fatalen Folgen. Denn der „Spiegel“ wollte ihm zunächst nicht glauben und stellte dessen Reputation infrage. Wochen später dann stolperte Relotius nach gut 60 Märchen über genau diesen Artikel – Jaegers Grenze.

Fake oder News? Oder beides?? Bei Class Relotius vom „Spiegel“ verschwimmen die Grenzen. Warum? Das ist hinterher immer die große Frage: Warum?? Und was sagt der ertappte Sünder: „Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vorm Scheitern.“

Mehr als 60 Mal fabrizierte er eine krude Mischungen aus Dichtung und Wahrheit. Nicht nur für den Spiegel. Auch für die SZ oder die FAZ. Ein Bärendienst für guten Journalismus.

Zitat des Tages

Facebook oder Youtube sind keine Debattierklubs, sondern Werbeplattformen, in denen Öffentlichkeit als eine Art überwachungskapitalistisches Nebenprodukt anfällt.

(Adrian Lobe in der Süddeutsche Zeitung)

Zahl des Tages: 51,75

Das ist das Ergebnis der Wahl der neuen CDU-Vorsitzenden auf dem Hamburger Parteitag der Christliche-Demokratischen Union. Knapp setzte sich Annegret Kramp-Karrenbauer im zweiten Wahlgang gegen ihren Mitbewerber Friedrich Merz durch.

Sehen so Sieger aus? Nach einem Marathon bei Regionalkonferenzen und einer sehr emotionalen Rede auf dem Parteitag scheint bei ihr die Luft raus zu sein. Die spannende Frage ist: Kann sie die gespaltene Partei – und das zeigt ja das knappe Wahlergebnis – wieder vereinen?

 

Das war knapp. Aber letztendlich konnte AKK, wie die smarte CDU-Politikerin gern abgekürzt wird, mit ihrer stark emotionalen Rede ein paar letzte Zweifler auf dem Parteitag überzeugen.

Was heißt das? Viele hatten auf Friedrich Merz gesetzt, der polarisiert hat und als zweiter Basta-Schröder galt. Aber jetzt gibt es eine Richtungsentscheidung. Sozial und verbindend europäisch statt kantig, grantig und wirtschaftsliberal.

Also: Kein Merz im Dezember!

Kleiner kaukasischer Divan

Es ist eine literarische Reise in ein Gebiet, das der römische Geschichtsschreiber Plinius einst den „Berg der Sprachen“ nannte: der Kaukasus. Im Brecht-Haus wird Adolf Endlers sehr persönlicher Reisebericht nach Georgien vorgestellt. Ein Bericht über Menschen, Landschaft, Sitten und Gebräuche, über Dichtung und Kunst. Ein Bericht zwischen Kaffeehellbraun und Kamelmistgelb.

Elke Erb, Anett Gröschner und Katja Lange-Müller lesen aus Endlers Georgienbüchern aus den 1970er Jahren. Eine Neuedition mit einer Auswahl älterer georgischer Poesie, die sich zuweilen erst beim zweiten, dritten Mal erschließt.

 

Wortgewaltig ist das treffende Wort. Wir sitzen mit am „Tisch der Märchen“. Und lauschen Erzählungen von „himmlischen Schwätzern und Fantasten“, wie die Georgier zuweilen über sich spotten. Poeme von großer Tiefe und in orientalischer Goldschnittmanier.

Kleine Auswahl gefällig? Wir haben in Wundern gerührt… und gelauscht, wie die Stimme des Eisens stöhnt… denn im Dorf ist der Weinstock zu gießen. Oder kurz gesagt: „Drei Steine an den Rand des Weges gelegt.“